In letzter Zeit wurde viel über und mit Landwirt*innen gesprochen. Es wurde zur Genüge darüber berichtet, wie schwer sie es derzeit haben, weil Saisonkräfte fehlen. Dass sie es sind, die uns mit Obst, Gemüse, Getreide und Tierprodukten versorgen, während im Supermarkt das Klopapier ausgeht. Wie hart sie wirtschaften müssen, um nicht pleite zu gehen. Wir sind aber heute hier, um auf die Situation der Saisonarbeiter*innen aufmerksam zu machen, die derzeit auf den Feldern und in Fleischfabriken arbeiten. Sie sind es, die in der Regel nicht angehört werden und aus unserem Blickfeld verschwinden. Dabei fußt unser ganzes Ernährungssystem, unser lecker Spargel, unsere günstigen frischen regionalen Erdbeeren und das billige Schnitzel auf den schlechen Arbeitsbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Wie viele gesellschaftliche Problemlagen werden durch die Covid-19-Pandemie auch die beschissenen Verhältnisse für Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft verschärft und überdeutlich. Zu deutlich zum Wegschauen? [ganzen Redebeitrag lesen]
In bester nationalistischer Manier werden die nationalen Interessen,namentlich die Rettung des deutschen Spargels und Erdbeeren, mit allen Mitteln vorangetrieben. Während Deutschland seine Grenzen mit der Begründung schließt, das Infektionsrisiko für die eigene Bevölkerung zu verringern, werden x-tausende Erntehelfer*innen aus Rumänien mit Sonderauftrag der Landwirtschaftsministerin zum Arbeiten nach Deutschland geholt. Per Sonderregelungen des Landwirtschaftsministeriums auf den Höfen in Zwangsisolation haben die Arbeiter*innen dort kaum Möglichkeiten sich vor Infektionen zu schützen. Kein Abstandhalten in überfüllten Wohncontainern mit 4-8 Menschen in einem Zimmer. Kein Händewaschen bei den Mittagspausen auf dem Feld. Kein warmes Wasser in den Containersiedlungen. Kein Infektionsschutz beim Transport zwischen den Feldern in Schulbussen. Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Keine ausreichende Krankenversicherung. Kein gesicherter Lohn. Keine Bewegungsfreiheit.
Den Saisonarbeiter*innen werden nicht erst jetzt Arbeitsbedingungen zugemutet, für die sich die meisten Deutschen zu schade sind. Auch direkt vor unserer Haustür, in der Rheinebene und am Kaiserstuhl ist Widerstand gegen bittere Arbeitsbedingungen auf den Feldern angebracht. Seit MitteMärz gibt es Spargel und Erdbeeren von Bohrer und Wassmer - überall sind ihre kleinbäuerlich anmutenden Stände. Handarbeit ist für die Ernte und Pflege dieser Kulturen unabdingbar - und ein wesentlicher Kostenfaktor, der in kapitalistischer Manier so weit es geht gedrückt gehört. Durch die Vergrößerung und Spezialisierung der Betriebe werden in sehr kurzen Zeiträumen sehr viele Hände für einfache Tätigkeiten gebraucht. Hierzulande sind die Betriebe auf Wanderarbeiter*innen aus dem Ausland angewiesen. Jährlich kommen rund 314.000 Menschen nach Deutschland, um Spargelzu stechen oder Erdbeeren und Gemüse zu ernten. Sie stellen rund 60 Prozent der Beschäftigten in Landwirtschaft und Gartenbau. Ihre Arbeit ist »flexibel und unsicher«: kurze Aufenthalte je nach Bedarf - ohne jegliche Integration in die sozialen Sicherungssysteme oder gar gesellschaftliche Netzwerke. Diese strukturelle Unsicherheit wird vom deutschen Staat seit Jahren durch Sonderregelungen gestützt: Für kurzzeitige Beschäftigungen in der Landwirtschaft (zur Zeit, aufgrund der Covid-19-Pandemie bis zu 5 Monate) fallen für die Betriebe keine Sozialabgaben an. Gut für die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe auf dem europäischen Markt - mies für die Arbeiter*innen. Ein weiteres Grundproblem sind die sehr langen Arbeitszeiten, zum Teil sieben Tage die Woche und 10 bis 14 Stunden am Tag in der prallen Sonne - Unbezahlte Überstunden und hohe körperliche Belastung inklusive. Das fordert seinen Tribut: 2018 starb ein Saisonarbeiter in der Region an einem Hitzeschlag auf dem Feld. Und im März 2020 starb der rumänische Erntehelfer Nicolae Bahan in Bad Krozingen an den Folgen einer Covid-19-Infektion.
Seit Anfang 2019 gibt es auch in der Landwirtschaft den gesetzlichen Mindestlohn - der vielerorts zu einer Verdopplung des Stundenlohns hätte führen müssen. Das hat die Betriebe erfinderisch gemacht, zum Beispiel bei der Anwendung von Akkordlöhnen. Die sind eigentlich nur erlaubt, wenn pro Stunde der Mindestlohn erreicht wird. Meist werden die Stückzahlen digital erfasst und automatisch in Zeiteinheiten umgerechnet. Zufällig kommt dann immer der Mindestlohn heraus. Dass die Beschäftigten für diese Menge tatsächlich viel länger gebraucht haben, können sie später schwer nachweisen. Häufig gibt es weder Arbeitsverträge noch eine klare Dokumentation der Arbeitszeiten. Zudem werden den Arbeiter*innen unverhältnismäßig hohe Summen für Essen und eine miserable Unterbringung abgezogen. Die Betriebe üben enormen Druck auf die Beschäftigten aus. Wenn Erntehelfer*innen die Leistung nicht schaffen, können sie von heute auf morgen gekündigt werden. Diese wiederum sind an stabilen Verhältnissen interessiert. Sie wollen in kurzer Zeit so viel wie möglich verdienen und auch im nächsten Jahr wiederkommen. Oft werden die Löhne erst am Tag der Abreise ausgezahlt, sodass eine vorzeitige Beendigung der Arbeit die Gefahr birgt, garkeinen Lohn zu bekommen. Eine gewerkschaftliche Organisierung ist aufgrund der kurzen Aufenthalte, der hohen Flukuation und der sozialen Isolation der Arbeiter*innen fernab gesellschaftlicher Räume nur schwer möglich.
Oft profitieren auch Vermittlungsagenturen, die mitunter hohe Gebühren fordern und ein Rundum-sorglos-Paket versprechen: »Du musst dich um nichts kümmern, wir holen dich ab und die Verträge warten auf dich.« Diese Agenturen haben ein gutes Netzwerk und können unliebsame Beschäftigte einfach austauschen. Mitunter werden sogar die Pässe einbehalten, um zu verhindern, dass die Menschen ihren Arbeitsplatz verlassen oder aufmüpfig werden. Dass wir diese dreisten Formen der Ausbeutung immer wieder antreffen, legt eine ausgeklügelte Systematik des Lohndumpings nahe. Derart prekarisierte und abhängige Erntehelfer*innen können sich nur schwerlich gegen Missständewehren und Widerstand organisieren. Und selbst wenn Missstände an Behörden wie Zoll oder Arbeitsschutz gemeldet werden, verstauben die Fälle meist in den Schubladen der Bürokratie, wennnicht zusätzlich Druck durch Presse und Öffentlichkeit aufgebaut wird. Schmeckt euch das immer noch? Uns jedenfalls nicht!
Klar, die Ernte von Luxusobst- und Gemüse ist absolut systemrelevant. Echt jetzt? Relevant für ein kapitalistisches, patriarchales und rassistisches System, in dem die Würde aller Menschen noch nie erstes Kriterium war für Politiken und ökonomisches Handeln. Ein System, das per definition ungerecht ist und Ungerechtigkeit sät. Ein System im demokratischen europäischen Gewand - in dem sich die menschenverachtende europäische Austeritätspolitik, die Grenz- und Asylpolitik und die Agrar- und Ernährungsbranche freundlich und zuvorkommend die Hände schütteln. Ein System,das ungleichwertige Lebensverhältnisse braucht, um die am prekärsten lebenden Menschen in die miesesten Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Ein System, das eine hypertechnisierte Agrarindustrie erzwingt, die vor allem bei den Lohnkosten dumpen muss, um noch ausreichend Profite abzuwerfen. Dank Lohn- und Wohlstandsgefälle in Europa sind es fast ausschließlich Migrant*innen aus Polen, Rumänien und Bulgarien, die die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft erledigen. Resultat ist die weitere räumliche Verschiebung von sozialen Problemen und Prekarisierung nach Ost- und Südeuropa. Schauen wir beispielhaft nach Rumänien: Agrarkonzerne eignen sich dort Flächen für die industrielle Exportproduktion an. Kleine Betriebe können dem Preisdruck nicht standhalten. Damit verschwinden Perspektiven im ländlichen Raum und die Menschen müssen nach Einkommensmöglichkeiten beispielsweise in Deutschland suchen.
Dennoch, es regt sich Widerstand unter den Saisonarbeiter*innen auf den Feldern und in den Schlachthöfen. Sie wollen neben den ohnehin schon miesen Arbeitsbedingungen nun zusätzlich die mangelhaften Infektionsschutzmöglichkeiten nicht länger hinnehmen. Immer wieder hören wir von Arbeiter*innen in wilden Streiks. Seit dem 15. Mai streiken über 250 Saisonarbeiter*innen auf dem insolventen Spargelhof Ritter in Bornheim. Ihnen droht neben der Ansteckung mit Corona ein Ausbleiben eines Großteils ihrer Löhne, die Obdachlosigkeit infolge der Arbeitsniederlegung und eine Rückreise nach Rumänien auf eigene Kosten.
Es ist an der Zeit für Arbeiter*innenkämpfe in der Landwirtschaft! Und diese wilden Streiks brauchen unbedingt eine basisgewerkschaftliche Unterstützung. Deshalb möchten wir an dieser Stelle aufrufen: engagiert euch bei der anarchistischen Basisgewerkschaft FAU, werdet Mitglied und vor allem: werdet aktiv. Eine kämpferische basisgewerkschaftliche Unterstützung von Arbeiter*innenwiderstand ist viel Arbeit und gerade prekäre Kämpfe von saisonal Beschäftigten werden meist von anderen Gewerkschaften ignoriert oder als wilde Streiks von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern nicht unterstützt.
Wo wir auch schon bei den Handlungsmöglichkeiten für euch wären: nehmt nicht einfach hin, was euch in den Supermärkten aufgetischt wird! Hakt an den Verkaufsständen, auf dem Markt, im Hofladen, im Restaurant, bei Alnatura und Edeka nach, wie die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer*innen sind - geht den Kellner*innen, Verkäufer*innen und Filialleiter*innen auf die Nerven. Übrigens: Leider garantieren auch Bio-Labels oder Demeter nicht per se faire Bedingungenfür Saisonarbeiter*innen... Thematisiert die Situation mit euren Freund*innen und Nachbar*innen beim nächsten deluxen Essen. Sucht euch transparente und faire Bezugsmöglichkeiten für euer Obstund Gemüse.
Zeigt euch solidarisch mit den Saisonarbeiter*innen und unterstützt ihren Widerstand und ihre Forderungen - es braucht dringend mehr basisgewerkschaftliche Arbeit in dem Bereich!
Solidarität ist eine Waffe! Deshlab gilt unsere Solidarität den streikenden Erntehelfer*innen in Bornheim, El Ejido, Alemria und überall!
Anbauteam der Gartencoop Freiburg, 23.5.2020